Gedenkstunde zu 75 Jahre Vertreibung im Jahre 2020
Zu dieser konnte Ortsverbandsvorsitzender Roland Jankofsky an jenem 1980 gesetzten Gedenkstein „Am Bacheler“ in Gießen-Kleinlinden BdV-Ortsvorsitzenden und Vorsitzenden der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen im Kreisverband Wetzlar Kuno Kutz (Volpertshausen), Regierungspräsident a.D. Wilfried Schmied und die sich mit einem Grußwort an die zahlreichen Teilnehmer wendenden Gießener Stadträtin Gerda Weigel-Greilich, Ortsvorsteher Klaus Dieter Greilich und den Vorsitzenden der Vereinsgemeinschaft von Kleinlinden Gerd Zörb begrüßen. Während in seiner Berüßung Jankofsky zurückblickte, war es Festredner Edwin Engel aus Gießen-Lützellinden, der auf Ankunft und Eingliederung einging.
Mit einer durch Kutz und Jankofsky erfolgten Kranzniederlegung zum Gedenken der Verstorbenen begann die Gedenkstunde. „Man sollte auch wissenschaftlich untersuchen, wie es eigentlich kam, dass die deutschen Vertriebenen in der Deutschen Demokratischen Republik, in Österreich und in der Bundesrepublik keine Terroristen geworden sind. In der Tat stellt ihre friedliche Integration eine unglaubliche Leistung dar und ein großes Glück für diese Welt“, zitierte Jankofsky den amerikanischen Geschichtswissenschaftler Alfred-Maurice de Zayas und fügte an, dass „man guten Gewissens behaupten kann, dass die Charta von 1950 dies bewirkt hat“. Am 11. März 1946 kam der erste Transport in Wetzlar an. Die Vertriebenen wurden über das Lager „Finsterloh“, welches später der Bundeswehr über Jahrzehnte als Schießstand diente, in die umliegenden Kreisgemeinden verteilt so kamen zu den 1.200 Einwohnern in Lützellinden 481 Vertrieben in die alten Bauernhäuser. Vier, fünf oder mehr Personen in einem Zimmer, in dem sich alles abspielte – das war eben so. Damals gehörte der heutige Gießener Stadtteil Lützellinden, der bundesweit durch seine Damen Handballmannschaft bekannt wurde, noch zum Kreis Wetzlar. 1949 bildete sich hier eine „Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft“ aus den Reihen der Vertriebenen. Zuvor war an Wohnungsbau nicht zu denken. Bei der Währungsreform am 20. Juni 1948 bekam jeder Bürger 40 DM. Das war alles. Nach viel administrativen Hürden und noch mehr Eigenleistung entstand ab 1951 im benachbarten Gießen der Markwald ausschließlich von und für Vertriebene. Hier befindet sich auch jener Gedenkstein der am 20. September 1980 in einer Feierstunde mit Ehrengästen gesetzt wurde. Die Festansprache seinerzeit hielt der Landeskulturreferent Edgar Hobinka. Der ostdeutsche Singkreis Niederkleen und die Welschbachtaler Musikanten umrahmten die Feierstunde. Seinem Rückblick hatte Jankofsky jenes Wort des Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer vorangestellt, das dieser bei der Verleihung 1954 sagte: „In schlimmster Weise vergeht man sich gegen das Recht des geschichtlich Gegebenen und überhaupt gegen jedes menschliche Recht, wenn man Völkerschaften das Recht auf das Land, das sie bewohnen, in der Weise nimmt, dass man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln. Dass sich die Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges dazu entschlossen, vielen 100.000 Menschen dieses Schicksal, und dazu noch in der härtesten Weise aufzuerlegen, lässt ermessen, wie wenig sie sich der ihnen gestellten Aufgabe einer gedeihlichen und einigermaßen gerechten Neuordnung der Dinge bewusst wurden“. Der in Gießen-Lützellinden als Musuemsbeauftragter fungierende Edwin Engel blickte auf jenen im März 1946 in Neutitschein gestarteten Transport in Viehwaggons zurück, der 1.149 Menschen ins Zwischenlager „Finsterloh“ brachte, von wo diese dann auf Gemeinden in der Gemarkung Hüttenberg verteilt wurden, darunter auch nach Lützellinden. Der Ort war damals überwiegend von der Landwirtschaft geprägt. Es gab kaum ein Anwesen, wo kein Stroh für die Stallungen gebraucht wurde. Stroh wurde aber auch von den Heimatvertriebenen dazu verwendet um Strohsäcke stopfen, die dann als Matratze dienten. „Für die Aufnahme mussten umfangreiche Vorbereitungen getroffen werden. Organisiert wurde zu Höchstleistungen waren von den Dienststellen in Wetzlar gefordert. Im Vorfeld hatte bereits am 18. Februar 1946 der Landrat die Bürgermeister angewiesen, wer sich weigere „Flüchtlinge“ aufzunehmen, müsse damit rechnen, dass er durch die Polizei aus seiner Wohnung raus gesetzt werde. Bei fehlender Ausstattung konnte eine sogenannte Beschlagnahmeanordnung vom Mobiliar durch den Landrat erfolgen. Nachdem die Heimatvertriebenen untergebracht waren, bestand die nächste Herausforderung darin, nach Arbeitsmöglichkeiten Ausschau zu halten. „Die Industriebetriebe waren zerstört, Verwaltungen und Handel mussten erst neu aufgebaut werden. In der Regel beteiligten sich die Heimatvertriebenen in der Landwirtschaft. Hier waren Arbeitskräfte vonnöten. Viele einheimische Männer waren noch in Gefangenschaft oder in Kriege gefallen. Die Landwirtschaft war damals noch sehr arbeitsintensiv. Händearbeit war erforderlich beim Heu machen, Getreideernte, Kartoffelanbau, Dickwurzanbau und vielem mehr. Arbeitsmöglichkeiten gab es auch beim Holz machen und bei Aufforstungsarbeiten, welche überwiegend durch Frauen erfolgten. Die einheimischen im Ort mussten oft auch von dem leben, was sie im Garten oder auf dem Felde selber Anbauten. Nicht für alle Einheimische war es selbstverständlich, sich immer satt zu essen. Eine große Hilfe war hier die Unterstützung der Amerikaner durch die Schulspeisung. Dem Bürgermeister fiel die schwere Aufgabe zu, die Vertriebenen im Ort unterzubringen. Dass er sich damit nicht nur Freunde gemacht hat, versteht sich von selbst. Bedingt durch die Einweisung der Vertriebenen und dem damit einhergehenden Einwohner Zuwachs wurde festgehalten, dass der Ort über 27 Prozent stark überbelegt ist“, so Engel. Einhergehend damit auch ein Wandel in dem überwiegend lutherisch geprägten Ort. So plante die katholische Kirche den Bau eines Gotteshauses und hatte hierfür sogar bereits ein Grundstück erworben, welche sie später jedoch wieder zurückgaben. Bis in die siebziger Jahre hinein fanden die katholischen Gottesdienste in der evangelischen Kirche statt. „Bei mir im Heimatmuseum findet sich ein Trachtenpuppenpaar, welches mit Resten der noch vorhandenen Trachten aus dem Kuhländchen bekleidet ist. Die Bau- und Siedlungsgenossenschaft wurde gegründet, weil weder in Gießen noch im Ort Bauland zur Verfügung gestellt wurde. Die Probleme mit der Eingliederung sind heute weitgehend vergessen. Die Folgegenerationen sind 75 Jahre später fest in unserem Raum verwurzelt. Es war gut und richtig, dass unsere Tageszeitungen 75 Jahre später von einigen Ortschaften über die damalige Situation aus den verschiedenen Ortschaften berichtet haben. Genauso wichtig war es, dass in Berlin im Juni dieses Jahres das Dokuzentrum „Flucht-Vertreibung-Versöhnung“ eröffnet werden konnte“, schloss Engel seine Rede und fügte diesen noch einem Schulaufsatz aus dem Jahre 1946 an, in dem eine Schülerin darüber einen Aufsatz schrieb wie Ostflüchtlinge eine neue Heimat in unserem Dorf finden. In diesem findet sich der Satz: „einerseits wurden sie gut und freundlich aufgenommen, aber manchmal musste auch die Polizei eingreifen“. In seinem Schlusswort las Jankofsky aus dem Brief einer jungen Tschechin, die in seinem Heimatdorf Kunzendorf (heute Dolejsi Kuncice) lebt und sich über die Ortsbeauftragte an den Redner wandte und berichtete, dass sie mittlerweile in dritter Generation in jenem Ort lebe und keine unbewusste Angst verspüre, die noch von den tschechischen Bewohnern in den Sudetenlanddörfern zu fühlen sei. „Ich würde gerne aber wissen, was alles damals passiert ist und ich wollte die Ereignisse aus der Zeit des vertreiben scannen und sie mit einer Reue empfinden. Ich würde gerne wissen, welche Leute hier gelebt haben und ich würde gerne ihn mein Mitleid vermitteln, gerade Ihnen, oder ihre Nachkommen, Mitleid über alle die Ereignisse, die geschehen sind. Ich suche nach den Informationen schon in Stadtarchiven, aber es geht mir nicht so gut, wie ich mir vorstellen würde, ich weiß nicht wie ich das weitermachen sollte. Deshalb wollte ich jemanden, der an die Geschichte erinnert kontaktieren. Ich kenne keine Person mehr und so wende ich mich an Sie. Zusammen mit meinem Ehemann haben wir ein altes Haus hier gekauft das wir jetzt reparieren. Wir haben ein starkes Bedürfnis, die Historie des Ortes zu kennen und durch diese Kenntnisse die Beziehung zu unserem neuen Haus zu verstärken. Wir wollen gerne erfahren wer in diesem Haus gewohnt hat, wie es früher ausgesehen hat“. Gerade dieser Brief spiegele nach den Schlußworten Jankofskys „die Gedanken und Gefühle der dritten Generation sowie der Vorgängergeneration in den Vertreibungsgebieten wieder. Er ist über einige Umwege zu mir gekommen. Wir haben Kontakt zu ihr aufgenommen, haben sie auch in ihrem Dorf besucht. Kontakt haben und halten wir auch zu einer Deutschlehrerin in der Stadt, zu der meine Heimat aufgehört, die in jedem Jahr mit ihren Schülern eine kleine Zeitung in deutscher Sprache gestaltet. Freundschaftliche Kontakte sind wichtig. Wir können in Europa nur weiterhin friedlich miteinander auskommen, uns weiter entwickeln, wenn wir den Geist der Charta der deutschen Heimatvertriebenen weiter leben“.
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