In Gedenken an Frieda Jung

eine Biografie und eine Auswahl ihrer Gedichte und Lieder — Herausgegeben von der Landsmannschaft Ostpreußen e.V., Abteilung Kultur 1965/1985

Vorwort

Auch Frieda Jung gehört zu den ostpreußischen Heimatdichterinnen, die man nicht ganz vergessen sollte. Viele ältere Landsleute, für die ihre Dichtungen einst von großer Bedeutung waren, fragen nach ihr. Und für manchen jungen Men­schen, der mit den Schwierigkeiten des Lebens nicht fertig wird, könnte sie auch heute noch Helferin und Trösterin sein.

Darum soll der 1965 zum 100. Geburtstag der Dichterin erschienene Arbeitsbrief noch einmal aufgelegt werden. Der als Vorschlag für eine Gedenkstunde gedach­te Text, der unverändert beibehalten wurde, stammt von Frau Erna Simpson aus Wipperfürth, einst Leiterin der dortigen Frieda-Jung-Schule.

Die zu Frieda Jungs Zeit in großen Auflagen veröffentlichten Gedichte mögen uns Heutigen etwas ichbezogen, gefühlsbetont und der äußeren Form nach kon­ventionell erscheinen. Daneben aber verdanken wir ihr Verse von echter volks­liedhafter Schönheit, nicht zuletzt im heimischen Platt, das sie meisterhaft be­herrschte. Als „Meisterwerk“ bezeichnete auch der verstorbene Martin Borrmann ihre humorvolle und doch so lebenswahre Erzählung „De Fru Lisedank ehr Jubilee“. Damit stellen gerade diese mundartlichen Arbeiten eine echte Bereicherung dar für das ostdeutsche Schrifttum, das nicht gerade reich ist an guter Dialekt­dichtung.

Auch die anderen Prosaarbeiten Frieda Jungs, ihre Kindheits- und Jugenderinne­rungen, haben neben dem literarischen auch einen dokumentarischen Wert und können sich würdig behaupten neben den Erinnerungen von Agnes Miegel an ihr großbürgerliches Elternhaus in Königsberg und den Schilderungen von Johanna Wolff, die als arme Stadtwaise in Tilsit aufwuchs.

So ist auch Frieda Jung durch eine harte Lebensschule gegangen. Von keinen Ängsten des Existenzkampfes, der Vereinsamung, ja, der Heimatlosigkeit wäh­rend des ersten Weltkrieges, blieb sie verschont, bis sie in unerschütterlichem Gottvertrauen und mit viel einsatzbereiter Liebe durch ihre Dichtung, deren Grenzen sie sich stets bewußt war, zu jener inneren Freiheit fand, die wir heute Selbstverwirklichung nennen.

Es gibt nicht viele Bilder von Frieda Jung, und es mag nicht mehr viele Men­schen geben, die ihr noch persönlich begegneten. So darf hier ein Bild gezeichnet werden, wie es noch klar und lebendig vor dem inneren Auge steht: ihr letzter Besuch in unserem Hause in Königsberg anläßlich einer Lesung im Ostmarken­rundfunk. Obwohl eher klein und zierlich, machte sie doch mit ihrer aufrechten Haltung, dem weißschimmernden Haar einen imponierenden Eindruck. Alle Ge­spräche während der gemütlichen Kaffeerunde sind vergessen. In Erinnerung blieb nur ihr gütig lächelndes Gesicht, ihre strahlenden Augen, mit denen sie verzückt auf unser blondgelocktes Töchterchen zwischen den beiden kleinen Zwillingsgeschwistern schaute, so liebevoll, wie nur eine Mutter es kann.

Nein, sie war keine „Mutter Ostpreußen“, aber doch ein Kind, eine Dichterin der ostpreußischen Heimat, die man, wie auch die Heimat an sich, nicht vergessen sollte.

Margarete Kudnig

Frieda Jung, eine ostpreußische Dichterin

„. . . mit dem Schmerz zu Tisch gesessen . . .“

Frieda Jung, die ostpreußische Dichterin der Stille, ist am 4. Juni 1865 in Kiaul­kehmen im Kreise Gumbinnen als Tochter eines Lehrers geboren worden. Durch den frühen Tod ihrer Eltern wurde das junge Mädchen früh aus einer glück­lichen Kindheit gerissen und hat, wie sie es selber in einem der ostpreußischen Bauerndichterin Johanna Ambrosius gewidmeten Gedichte sagte: mit dem Schmerz zu Tisch gesessen." Eine bittere Enttäuschung für die kaum Zwanzig­jährige war auch ihre unglückliche Ehe, die kaum ein Jahr währte, und der rasche Tod ihres neugeborenen Kindes. Die durch Krankheit und bitteres see­lisches Leid gezeichnete junge Frau fand ihren Trost in schlichtem Gottvertrauen. Immer wieder versuchte sie eine ihrer Art entsprechende Arbeit zu finden. Sie schrieb darüber klagend: „Zu einem Amt war ich körperlich zu schwach, zu dem anderen zu unwissend. Endlich fand ich Aufnahme im Kindergarten zu Lyck, und seitdem habe ich im Laufe von zwölf Jahren Stellungen (als Erzieherin und Gesellschafterin) in vier verschiedenen Häusern innegehabt. Es muß wohl schon so sein, daß der liebe Gott auch unter den Menschen seine Wandervögel hat, und wohl denen, die mit dieser Bestimmung ihres Lebens auch den Wandertrieb der kleinen Gefiederten verbinden. Ich besitze ihn nicht. Mein Herz klammert sich mit zitterndem Eigensinn an jedes Haus, in dem ich einen Weihnachtsbaum brennen sah und ein Kinderhändchen loszulassen, das sich einmal warm und zärtlich in meine Hand legte, verursacht mir beinahe einen körperlichen Schmerz.“

Diese innere Verbundenheit mit den Menschen ihrer Heimat bestimmte ihre Dichtkunst. Gleich ihre ersten Gedichte, die 1900 herauskamen, zeichneten sich durch eine tiefe Wahrheit der Empfindung aus. Gedanken und Lieder voller Schlichtheit und Wahrheit erfüllen das Wesen und Leben von Frieda Jung, die dazu bekannte: „Ein paar Töne davon weht der Wind in die Welt hinaus. Lind nun geschieht das Unfaßbare, hin und wieder bleibt einer stehen und lauscht. Es mag ihm wohl zumute sein, als hörte er an einem schönen, klaren Herbst­abend ganz fern vom Dorf her das Spiel einer Harmonika. Kunstlos, leise, sehn­süchtig.“

Frieda Jung sah und schilderte mit Herzensgüte, tiefem menschlichen Verstehen und recht oft mit einem feinen Humor die Dinge ihrer Welt. Die in Insterburg lebende Dichterin war im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch ihre Lesungen und Gedichtbände in Ostpreußen so bekannt geworden, daß sie im Sommer 1912 im Dorfe Buddern, Kreis Angerburg, ein kleines eigenes Heim beziehen konnte, das sie sich aus den Erträgen ihrer Arbeit geschaffen hatte. Aber wieder verschonte Frieda Jung das Schicksal nicht und zwang sie mit ihren masurischen Landsleuten 1914 zur Flucht vor den Russenarmeen. Dieses Ereignis scheint die empfindsame Frau sehr hart und tief getroffen zu haben. Sie wurde nun zur Künderin Ostpreußens, zur Sängerin ostpreußischer Land­schaftsschönheiten und Heimatliebe. An ihrem 60. Geburtstage 1925 erfuhr Frieda Jung im Rathaussaal zu Insterburg von dieser Stadt und der ganzen Pro­vinz Ostpreußen würdige Ehrungen. Aber bald stellten sich durch Krankheit bittere Sorgen ein, so daß der Goethe-Bund eine Sammlung für sie einleiten mußte. Frieda Jung mußte sich einer Operation unterziehen, die ihr beste Gene­sungsaussichten eröffnete. Da versagte nach einer schweren Grippe ihr Herz, und am 14. Dezember 1929 schloß sie die Augen für immer. Auf ihrem Grab in Insterburg stand ein schlichter Stein, der außer ihrem Namen ein von Professor Hermann Brachert geschaffenes Bronzerelief mit dem Antlitz der Dichterin trug.

Gedichte und Lieder

Auf die ersten, 1900 erschienenen „Gedichte“ von Frieda Jung folgte 1906 ein Sammelbändchen, dessen Titel man nicht unter den Gesichtspunkten gegenwärti­ger Auffassungen betrachten darf. Frieda Jung nannte ihn „Mairegen — Gottes­segen“. Dieses Bändchen fehlte vor 1914 fast in keinem ostpreußischen Bürger­haushalt. Es folgte der weitere Band „Freud und Leid“, dann 1908 „Neue Ge­dichte“. „In der Morgensonne“ war der Titel des ersten Bandes der entzücken­den Kindheitserinnerungen von Frieda Jung, der 1910 erschien. Im Ersten Welt­kriege hat sie mit Lesungen gerade aus diesem Buch in mehr als 60 mitteldeut­schen Städten vielen Tausenden von Zuhörern ein lebensnahes Bild vom ost­preußischen Wesen und von den Menschen an der Bernsteinküste und an den Masurischen Seen vermittelt. Der Dürer-Bund brachte in den Kriegsjahren drei Bändchen von Frieda Jungs Schriften heraus, von denen die Gedichte „Aus Ost­preußens Leidenstagen“ in ganz Deutschland von dem Opfer kündete, welches die östlichste Provinz des Reiches hatte darbringen müssen. Ihre letzte Samm­lung, die unter dem Titel „Gestern und heute“ ein Jahr vor ihrem Tode erschien, ist noch oft im Ostmarken-Rundfunk und im Sender Königsberg und Heilsberg sowie in der ostpreußischen Presse gewürdigt worden. Sehr verbreitet waren in Frieda Jungs Heimat auch ihre Kinderlieder.

Lassen wir noch die folgenden Verse für Frieda Jung und ihr Werk sprechen:

Wenn keine Blumen auf Erden blühten, Keine Seelen für Gutes und Schönes glühten Und nicht das bißchen Liebe wär' — Ich lebte nicht mehr!

„Was kam, was kommt — ich weiß nur eins: Hier ist mein Herz, und das ist deins, O Heimat, bis zum Tode.“

Das war Ostpreußens Frieda Jung, eine kleine, zarte Frau, der sich einst viele Herzen in Liebe und Verehrung zuneigten.

Gebet

Herr, gib uns helle Augen,

Die Schönheit der Welt zu sehn!

Herr, gib uns feine Ohren,

Dein Rufen zu verstehn,

Und weiche, linde Hände

Für unserer Brüder Leid

Und klingende Glockenworte

Für unsere wirre Zeit!

Herr, gib uns rasche Füße

Nach unserer Arbeitsstatt —

Und eine stille Seele,

Die deinen Frieden hat!

Ich lebe

Das darf ich sagen:

Von leeren Tagen Gibt Gott mir wenig.

Reich wie einem König Mißt er mir die Leiden,

Mißt er mir die Freuden.

Ich falle! Ich schwebe!

So tief! So hoch!

Ich lebe! Ich lebe! —

Frieda Jung wurde am 4. Juni 1865 in Kiaulkehmen, Kreis Gumbinnen, als fünf­tes Kind des Lehrers Jung in einem sehr bescheidenen, aber sehr nestwarmen Schulhaus geboren, in welchem dem Kinde schon früh Augen und Ohren für die Schönheit der Welt geöffnet wurden. „Unser Haus war das erste im Dorf, — und das gehörte sich auch so, denn es war das Schulhaus. Wenn man von Nem­mersdorf oder Kollatischken kam, dann lag es gleich links vom Weg und sah einen mit seinem Giebelfenster treuherzig an.

Mir paßte das nicht immer. Es ist nicht angenehm, wenn ein Haus nach allen Seiten hin Fenster hat; man kann auf keinen Baum in Ruhe klettern, — und daß ich das einzige Mal in meinem Leben der Base Lina, die mich immer neckte, die Zunge ausgestreckt, ist auch nur auf diese Weise herausgekommen.

Das Dach unseres Hauses war ganz bemoost und hing weit und zutraulich über die niederen Wände herab. Wenn es regnete, war es herrlich, darunter zu stehen und dem Regen ein Schnippchen zu schlagen. Im Innern des Hauses gab es eine „schwarze Küche“ mit offenem Schornstein und außer der Schulstube zwei Stüb­chen, die Herr Pfarrer Dewitz unsere Privatwohnung nannte. Das gefiel mir ungeheuer, es war, als wenn unsere Stuben einen schönen Vornamen bekommen hätten. Ja, wer mal so ans Taufen gewöhnt ist . . .!

Entzückend waren unsere Türschwellen. Sie waren so hoch wie kleine Bänkchen und wurden von mir als solche benutzt. Sie hatten außerdem die Eigenschaft, erzieherisch zu wirken, denn sobald man darauf saß, hieß es aufmerken, — wenn die Tür unversehens aufgemacht wurde, pardauz, lag man auf dem Rücken und zappelte mit den Beinchen in der Luft.

Eine andere wundervolle Sitzgelegenheit war die Schublade von dem rotgestri­chenen Schaff (Schrank) in der Wohnstube. Sie wurde ein Stück herausgezogen und dann saß man auf den alten Kleidungs- und Wäschestücken, die darin auf­bewahrt wurden, wie auf einem kleinen Sofa. Rückenlehne, Polster — alles vor­handen. Sonst gab es bei uns nur rotgestrichene Holzstühle, die in der Lehne einen herzförmigen Ausschnitt hatten. Die waren außerdem aber auch noch zum Versteckspielen da. Man stand von der hohen Lehne völlig verdeckt — kein Mensch konnte einen gewahr werden — und sah durch das Herzguckloch, wie die anderen sich halbtot suchten. Vater konnte es besonders gut. Er schoß in der Stube umher, daß ihm die Rockschöße flogen, und setzte sich endlich ganz zu­fällig auf den Stuhl, hinter dem man stand. Dann eine Gänsefeder oder einen Strohhalm leise, leise ans Ohr oder in die Halsbinde — und die Stube dröhnte von Schreckensrufen, Jubelgeschrei und Wiedersehensfreude. — Auch zum Küs­sen wurden die Stühle benutzt, aber es war durch das Guckloch mühsam, ich habe mir dabei einmal einen Mausezahn herausgedrückt.

Dicht vor unserem Bett — ich schlief bei Mutterchen — war die „Kartoffel­kaule“. Man faßte an den eisernen Ring, der an der Diele befestigt war, und hob diesen auf. Dann gähnte es einem schwarz entgegen. „Kartoffel einlesen“ ge­hörte durchaus nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Und wenn ich es trotz­dem immer singend tat, so war das nicht aus Liebe zur Sache, sondern aus Angst vor den schwarzen Ecken da unten. Licht anzustecken, wäre ja eine große Ver­schwendung gewesen. So mußte man die Arbeit in den Fingern haben wie beim Harfenspiel. Zu Pellkartoffeln nimmt man die kleinsten, zum Schrapen die mitt­leren, zum Reiben die größten Kartoffeln, das wissen auch Minderbegabte. Aber die Ausführung fordert guten Willen.

Ich hatte ihn nicht immer. Auch nach anderen Richtungen hatte ich ihn nicht immer. Dann nannten mich die Eltern schlechtweg „Wegners Trine“ und behan­delten mich mit verletzender Kälte. Was hatten sie mit Wegners Trine zu tun? Ja, das waren noch hübsche Zeiten gewesen, als ihre Friedel so lieb und artig in der Stube umhergesprungen! Es schien ihnen allen sehr leid zu tun, daß Friedel weg war, kein bißchen Lachen wollte aufkommen. Schließlich konnte ich's nicht mehr aushalten. Zum äußersten entschlossen lief ich zur Türe. „Weg­ners Trine raus“, kommandierte ich mehr laut als klangvoll. Und nun kam ein schönes Wiedersehen mit der so schmerzlich entbehrten kleinen Friedel. Mutter­chen nahm mich sofort auf den Schoß. Wir lachten uns an, und ich streichelte ihr das kohlschwarze Haar, das zu beiden Seiten ihres schmalen Gesichts so glatt heruntergekämmt war, daß einer sich drin spiegeln konnte.

Auf diese Weise kam ich fast nie mit dem braunen Birkenkreis in Berührung, der hinter dem Spiegel steckte und so gräßlich aussah. Sehr, wirklich sehr gräß­lich. Da half nicht einmal die rote Schleife, die Hanna aus einem Streifchen Pur­purkattun um den Stiel gebunden.“

Blütentage

Ich kniee vor dem Zauber dieser Tage,

Vor diesem Übermaß von Glanz und Licht.

O Schönheit, neige dich! Ich laß’ dich nicht,

Bis ich dein heilig Bildnis in mir trage!

Steht wartend doch in dieser Gnadenzeit

Und sehnend jeder Blume Kelch dir offen!

Ich laß' dich nicht, bis mich dein Strahl getroffen

Und bis dein Segen meine Harfe weiht!

In den frühen Jahren ihrer Kindheit erlebte die kleine Frieda ihren ersten Um­zug. Und wie sie ihn erlebte!

„Unser liebes, altes Haus neigte eines Tages seine gesenkten Balken noch tiefer, — und das ganze Dorf sprach wie ein Mann: „Es ist die höchste Zeit, wir müs­sen eine neue Schul' bauen.“ Und eines Morgens war das große Ereignis da: wir zogen! Wer das nicht kennt, kann nicht mitreden. Und die Kiaulkehmer konnten fast alle nicht mitreden. Da saß jeder wie angewachsen auf seinem Hof, aber wir — wir zogen!

Ich stieß einen Jubelschrei aus, wie er einem solchen Ereignis angemessen, und wunderte mich, daß nur die Schwestern einigermaßen mittaten. Sie packten noch in Windeseile ihre letzten Sachen zusammen.

„Aber Mutterchen, freust du dich denn gar nicht?“ fragte Martha.

Die stand mitten in der Stube und hatte die Augen voll Wasser. Hanna trat zu ihr und gab ihr einen Kuß, und ich stieß Martha an, daß wir es auch tun woll­ten, vielleicht mußte das beim Ziehen so sein. — Und dann fing es endlich an. Vater ordnete den Auszug, alle Schulkinder halfen.

„Julius und August, ihr nehmt den Tisch! — Zum Kuckuck, Jungens, wollt ihr wohl das Schaff stehenlassen, das ist für die Männer! — Na, Lieschen, dir kann man schon was zutrauen, du nimmst die Wanduhr! Aber paß auf, du weißt, sie schlägt!“

„Vaterchen — und ich?“

„Nehmt doch die Schubladen raus, Jungens, und tragt die Kommode so! Viel­leicht hochkant!“

„Vaterchen — und ich?“

„Richtig, Friedel, auf dir liegt ja meine ganze Hoffnung. Na guck mal, hier den Wandkorb und die Ofenkrück’ —“

„Das ist mir viel zu leicht!“

„Ja, bei kleinen Mädchen geht's doch auch nicht nach der Schwere, da geht's nach der Feinheit. Na, denn noch den Lampenteller und die Rute. —“

„Die schmeiß' ich in den Dorfteich.“

„Das ist recht. Wofür sollten wir der eigentlich das Altenteil geben?“

Drüben in der neuen Wohnung — wir surrten immer wie die Bienen hin und her — richteten Mutter und Hanna alles ein.

O — es war ein hübsches Häuschen! Es hatte ein Jahr leer gestanden und sollte eigentlich schon abgebrochen werden, bevor . . . Wenn kein großer Sturm kam. hielt es wohl noch. Und wenn einer kam, konnte man sicher noch rechtzeitig hinauslaufen. Ganz sicher! Und wie fein sah es jetzt mit unsern guten Sachen aus!

„Aber nun guck erst mal hierher“, sagte Hanna, und ihre Stimme tanzte ordent­lich vor Lachen, was nicht oft vorkam. In der neuen Wohnung wuchs Gras! Ich war so überwältigt, daß ich gleich auf dem Estrichboden niederkniete. Ja, ja —  Gras! Wirkliches Gras! Zwar nicht gerade viel. Aber für eine Stube . . .! Das hatte ja keiner in ganz Kiaulkehmen.

„Siehst du“, sagte Hanna, „das dachte ich mir gleich, daß dir das Spaß machen würde. Mutterchen meinte, ich sollte es ausreißen —, aber nun darf es noch

ein bißchen stehenbleiben. Bloß begießen, das hat sie streng verboten. Hörst du?“

Es war auch sonst in der neuen Wohnung allerlei Nettes zu sehen. Die Hälfte der Fenster war mit Papier verklebt, eine Scheibe sogar mit einem Bild, das einen Hahn darstellte. Als es gegen Abend zu regnen anfing, sagte es in der einen Ecke: Tipp — tipp — tipp! Martha nahm eine Blechschüssel und trug sie an die Stelle, da ging es wie voll Dankbarkeit noch lauter: Tipp — tipp — tipp! „Wir werden uns alle den Rheumatismus holen“, klagte Mutter. Aber Vater meinte: „Gott bewahre, im Kalender steht ein trockener Sommer. Das ist nur ein Übergang.“

Und der Kalender hatte recht. Ein Sonnentag reihte sich an den andern. Wir konnten bei offenen Fenstern schlafen, und keine Krankheit legte die Hand auf uns. —

Hier wohnten wir, bis die neue Schule fertig war.“

In der Dämmerstunde, die die Familie zu herzlich warmem Gespräch zusammen­führte, hörten die Kinder mit Wonne und Vergnügen vieles aus der Geschichte der Familie.

„In unserer Wohnstube gab es einen Gegenstand, der sehr einfach aussah, es aber doch in sich hatte — unsere rotgestrichene Ofenbank. Im Sommer hatte sie eine Nebenbuhlerin, von der sie sich völlig verdrängen ließ, die zierliche Gar­tenbank, die im weißen Kleid in der Bohnenlaube stand. Aber wenn der Winter kam . . .!

Frau Ofenbank war eben auf den Winter eingeschworen. —

Vom Walde her kam mit leisen Schritten die Dämmerung gegangen. Dicker, weicher Schnee deckte die Ackerbreiten, die Dächer, die Dorfstraße. Hin und wieder klang es ferne oder näher: „Klingling“ — Schlittenglocken! Am Nem­mersdorfer Walde war nur noch ein schmales, gelbrotes Streifchen vom Winter­kleid des Tages zu sehen.

Ich saß am Fenster und hatte schon vor einer Weile die fünfte Stricknadel in das zusammengerollte Strickzeug gesteckt. Hanna, die eben vom „Beschicken“ gekommen und die über das Winterobst zu sagen hatte, legte Äpfel zum Braten in die Röhre. Einen Augenblick fiel der Feuerschein des Ofens auf ihre schmale Gestalt, — Vater krückte soeben die Glut auf, um noch ein paar Stücke Holz für den Abend nachzulegen.

„Na, Martha“, sagte er scherzend zur andern Schwester, die für Mutter Webespulchen machte, „Dein Wocken geht ja schon nach der Melodie: Kommst du nicht heut', so kommst du doch morgen. Nu hör’ doch man auf!“

Nur Mutterchen saß noch am Webstuhl. Mit surrendem Geräusch flog das Schiff­chen durch die bunten Fäden des Aufzuges. Jedesmal sagte dazu die Kammlade: Klapp Klapp!

Jetzt reckte sie sich ein bißchen. „Ja, einer merkt gar nicht, daß es dunkel wird, wenn man so in der Arbeit steckt.“ Sie stand auf und ging ein paarmal in der Stube auf und ab, Martha und ich hatten uns in ihre Arme gehängt.

Braun liegt die Schleppe der Dämmerung auf den Dielen. Am Fenster sieht man weiße, weiche Flocken herniederrieseln. Immer mehr — immer mehr! „Na, bitte schön“, sagt da die Ofenbank.

Eine Weile geht das Gespräch über den vergangenen Tag. Herr D. aus Adomlauken hat angefragt, ob Vater es übernehmen möchte, seinen Sohn für das Seminar vorzubilden, aber Vater hat ihm geraten, den Sohn lieber in die Präpa­randenanstalt zu geben.

Mutter nickt. „Ja, das ist jetzt eine andere Vorbildung, als zu meines Vaters Zeit! Wenn ich noch so denk'...“

Martha und ich drücken uns die Hände, es ist zu schön, wenn Mutter „noch so denkt“, — wir sind in keinem Falle willens, uns die gute Gelegenheit vorüber­gehen zu lassen. „Wie war das doch eigentlich mit Großvater?“ fragt Martha unbefangen.

„Ach, ich glaub’, das hab’ ich euch schon dreimal erzählt!“

„Nein, nein, Mutterchen!“ Und es ist keine Unwahrheit, wenn wir „nein“ rufen, sie hat es uns nicht dreimal, sie hat es uns wohl schon zehnmal erzählt.

Und auf unser dringendes Bitten ist sie so gut, es zum elftenmal zu tun. — Es war die alte Sache mit dem Lehrerblut gewesen. Wenn Großvater an dem Schneidertisch gestanden, um für den Nachbarn einen neuen blauen Abendmahlsrock mit langen Schößen zu machen, so war es ihm auf einmal eingefallen: „Fasten und leiblich sich bereiten, ist wohl eine feine, äußerliche Zucht . . Großvater hätte den im ganzen Dorf sehen mögen, der das noch bis zu Ende konnte. Er konnte es bis zu Ende. Ach, sein Vater hätte ihn doch auch sollen Schulmeister werden lassen, wie er’s selbst war. Schade — schade!

Und ein andermal, ganz ohne äußere Veranlassung, sprang ihm von der Dorf­straße her durch das geöffnete Fenster der Gedanke in die Stube: „Wie hübsch

muß das sein, wenn solch eine kleine, liebe Bande vor einem sitzt, und man sieht in all den groß aufgeschlagenen, horchenden Augen den Stern von Beth­lehem aufgehen!“ Wenn einem so etwas ganz ohne äußere Veranlassung ein­fällt, ist es ein Zeichen, daß es ernst um einen steht!

Ja, wenn nur die schwere Schulmeisterprüfung nicht wäre! Für einen Mann von über vierzig Jahren . . .!

Aber eines Tages sagte es in Großvaters Herzen ganz deutlich — „das war eben das Lehrerblut“, betonte Mutterchen —: „Ich wag's! Ich muß und muß es den Kindern beibringen, wie herrlich Gott die Welt geraten ist!“ Und eine Kraft, von der er nicht wußte, woher sie ihm kam, schob ihn Schritt für Schritt vor­wärts, so daß es ihn schier verwundern mußte, auf einmal bei Hochehrwürden im Studierzimmer zu stehen.

„So, so“, sagte Herr Pfarrer K., „so, so!“ Und dann fing er an, Großvater zu prüfen. „Wie heißt die fünfte Bitte? — Die Erklärung vom achten Gebot?“ Großvater sagte beides ohne anzustoßen her.

„Schreiben können Sie?“

„Jawohl, Herr Pfarrer!“

„Und Gedrucktes und Geschriebenes lesen auch?“

„Auch!“ sagte Großvater mit Würde.

„Na — da möchten wir noch einmal das Lied hören: Hallelujah, Lob, Preis und Ehr'!“

Bei den ersten Worten schwankte Großvaters Stimme wie ein Kahn auf hoher See. Aber der Bootsmann hielt wacker aus. Und als er an die Stelle kam: „Klin­get, singet: Heilig, heilig, hoch und herrlich ist Gott — unser Gott, der Herr Zebaoth“, da hatte er sich die Schulstelle zu Kiaulkehmen, Kreis Gumbinnen, ersungen und damit ein Eiland erreicht, das wir Mädel jetzt bis auf jeden Gras­halm, zum mindesten bis auf jede Erdbeerenstaude kennen. „Klinget, singet ...“ „Sag' mal, Mutterchen, ist das wirklich die ganze Prüfung gewesen?“ fragt Hanna.

Mutter nickt. „Die ganze Prüfung! Wir Kinder waren ja so schlau, wir wußten Großvater immer wieder darauf zu bringen! Da hat er's uns wohl zehnmal er­zählt. — Ja, was ist dabei eigentlich zu lachen, Martha?“

Vater schmunzelt ebenfalls; er geht jedoch über Mutterchens Frage hinweg und meint: „Man muß aber auch nicht vergessen, wie wenig Großvater für seine Leistungen bekam! Unser altes Haus zusammen mit dem Dorfhirten. Und außer dem Schulland sieben Taler bar!“

„Monatlich?“

„I, Kind, wo denkst du hin! Jährlich natürlich. Sieben Taler jährlich! - - -

Wundern muß ich mich aber doch noch heute, Minchen, wie gut dein Vater sich allmählich ins Unterrichten hineingefunden. Ich glaub', unsere Schule war im Kirchspiel noch eine von den besten. Und er hat uns erzogen . . .! Das ist mehr als unterrichten. Mit welcher Liebe denken all die älteren Leute im Dorf an ihn! Solch ein lauterer Mensch!“

Wie auch der Vater Frieda Jungs mit viel Pflichtbewußtsein, Verständnis und Liebe sein Lehreramt ausübte, erzählt die Dichterin so anschaulich, daß wir meinen, wir säßen selber dabei.

„Ich war nun also ein Schulmädchen mit allen Rechten und Pflichten eines sol­chen. Lesen — wer spricht noch darüber? Schreiben — Kleinigkeit! Aber Rech­nen ...! Das Rechnen mußte ein sehr langweiliger und griesgrämiger alter Mann erfunden haben, den ich mir außerdem auch noch blind vorstellte. Wenn man sehen kann, wie die Birken im Garten mit ihren grünen Schleiern immer so hin und her wehen, wie das Bachstelzchen da auf dem Wege wippt und wie blank Dawideits Auguste ihr Haar heute wieder ist, — die hat mindestens einen hal­ben Löffel voll Schmalz „draufgeschmiert“, nun, da wird man ja nicht auf solche Gedanken verfallen.

„Vierundzwanzig und siebzehn“, fragt Vater. Ich bin ahnungslos. „Vierzig“, rate ich. „Beinahe!“ „Na, Vaterchen, kommt es so darauf an?“ — Ja, es kam sehr darauf an, und ich mußte mich recht zusammennehmen, um erst mal all die Schleichwege im Zahlenkreis von Eins bis Hundert sicher laufen zu können. Später ging es leichter vorwärts, besonders wenn an die Zahlen ein Apfel oder ein Pfund Butter oder dergleichen gebunden war. „Ein Meter rotbunter Kattun kostet 25 Pfennige. Wieviel kosten dann sieben Meter rotbunter Kattun?“ Solche Aufgaben läßt man sich gefallen. Man muß doch wissen, was und wozu!

Nach Vorschriften zehnmal denselben Satz zu schreiben, — im Schönschreibe­heft waren gerade zehn Doppellinien auf einer Seite — machte übrigens auch nicht großen Spaß.

Aber wenn es hieß: „Nun schreiben die Kleinen mir einmal etwas Hübsches über die Katze — oder über den Hund — oder über Weihnachten“: dann blühte mein Weizen. Dann: Juchhe!

Nicht nur, daß ich selbst sofort die innigsten Beziehungen zu Katze, Hund und Weihnachten hatte, ich wußte auch — nun kommt's! Und es kam. Von allen Sei­ten kam es, zischelnd, raunend, flüsternd: „Friedel, segg mi doch e Anfang! Herscht?“ — „Du, Friedel!“ Matthees Marie stieß mich überhaupt bloß mit dem Ellenbogen an, das genügte.

Ich glaube, es war das erste, was ich in meinem Leben zu verschenken hatte, jene „Anfänge“. Es machte mich glückselig, und ich teilte manchmal so rück­haltlos, daß ich selbst in bitterster Verlegenheit blieb und mit dem alten faden­scheinigen Satz beginnen mußte, welchen Vater auf den Tod nicht leiden konnte: „Die Katze ist ein nützliches Tier!“

Wie segnete ich es aber, daß er in den erhebenden Augenblicken des Austeilens stets so weit vom Felde meiner Tätigkeit stand. Während wir Aufsatzübungen machten, unterrichtete er in der ersten Abteilung in Geographie, und das be­schäftigte ihn ebenso sehr, wie mich meine acht oder neun „Anfänge“ über die Katze.

Die Einrichtung mit den drei Abteilungen war überhaupt fein. Was flog da alles zu einem herüber! Und wenn man „Schönschreiben“ hat oder still für sich lesen soll, so wird man das ja nicht engherzig auffassen. Bewahre! Sondern man dämmt mit den Großen die Weichsel ein, damit sie nicht den gräßlichen Schaden machen kann, oder wandert mit zum Heiligen Grabe — das ist nicht mehr als recht und billig — oder weint um den frühen Tod der Königin Luise. Allerdings alles nur als Nebenbeschäftigung, aber immerhin ...!

In einer Stunde jedoch bekam Vater wohl fast alle Kinder so weit, daß ihre See­len eine kleine Auswanderung unternahmen: in der Religionsstunde.

Zuerst das Morgengebet! Er stand am Pult, das Gesangbuch in den Händen. Wir sangen die beiden ersten Verse eines Morgenliedes, oft eines solchen, bei dem wir Kinder uns ganz gewiß nichts dachten. Denn es lag in jener Zeit, daß man belehrende, betrachtende Verse, wenn sie nur auf der Chaussee einer glatten, gewandten Sprache dahinrollten, jenen alten, herrlichen, poesievollen Liedern vorzog, die eines wundervollen Ausblickes wegen wohl auch einmal eine recht holprige Wortstraße fahren. Aber wenn Vater sie mit uns sang, wurde plötzlich aus ihnen eine quellende Freude am jungen Tag, eine flammende Liebe zu dem, der aus seiner Fülle heraus ihn uns lachend entgegenhielt: „Hier, kleines Men­schenkind, nimm — nimm ...!“

Wenn Vater dann die letzten Verse des Liedes mit seiner frohen, gläubigen Stimme laut las, tat sich leise die Schultür auf, und es kam einer zu uns herein, der trug einen ungenähten Rock und in seinen Augen stand: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein . . .“

Dann setzten wir uns in unsern Bänken zurecht, jeder wie er mochte, und dann begann Vater den Unterricht.

Biblische Geschichte oder Katechismus oder Spruch und Kirchenlied.

Aber eigentlich ist das doch alles eins — ein einziger großer, weiter Garten. Wenn ich mir von den Blumen auf den Beeten pflücken darf, wähle ich mir die leuchtend roten: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich euch, — freuet euch!“ „Es ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster!“

Zwischen den Beeten stehen große, starke Bäume. Da braust der Wind vergeb­lich, er kann nicht gegen sie an. „Ich glaube an Gott den Vater . . .“ „Ich glaube an Jesum Christum ...“ „Ich glaube an den Heiligen Geist ...“ Die Heiden haben's nicht so gut wie wir; wenn sie die Hand ausstrecken, greifen sie in leere Luft.

Dieses Kinderglück in der Wärme des Elternhauses durfte Frieda Jung so unge­trübt erleben, daß sie später sagte:

„Auf Schatten in jener Zeit weiß ich mich kaum zu besinnen. Die kamen erst, als der Vater im Jahre 1881 seine lieben Augen schloß.“

Die Mutter zog mit ihren Töchtern nach Gumbinnen. — Bald aber klopfte das Leid wieder an die Tür. Der älteste Bruder verlor seine junge Frau, und die Schwester zog für ein paar Jahre zu ihm nach Königsberg, um ihm den Haus­halt zu führen und für die beiden kleinen Kinder zu sorgen. Hier — in der Großstadt — begegnete sie einer ihr bis dahin fremd gewesenen Welt mit ihren Gegensätzen.

Berichtigung

Ihr nennt mich immer zu zahm und zu zart, —

Und kann doch schelten, das hat eine Art!

Wenn ein Bube einen Hund mir quält,

Wenn jemand schwüle Geschichten erzählt,

Einer stört seines Kindes Spiel und Ruh’, —

Meint ihr, ich lächelte dazu?

Wenn sie „Pöbel“ nennen das Volk in den Gassen,

Mein Ostpreußenland nicht gelten lassen,

Mit Lästerwort hinter dem Nächsten traben,

Einen Extraplatz meinen im Himmel zu haben,

Wenn bei Mozart und Brahms die Gesellschaft spricht, —

Meint ihr, ich ärgerte mich nicht?

Das wär' mir wahrlich keine Zier!

Glaubt nur: ich ärgere mich just wie ihr,

— Wie man’s eben im Augenblick sich getraut —

Bald laut, bald im stillen, doch lieber — laut!

Aber immer so, daß zur selben Frist

Kein Zweifel an meiner Meinung ist.

Denn bei des ehrlichen Unmuts Walten

Jedes Wörtlein ängstlich beim Zipfel hallen, —

Ich weiß nicht, ob das Christenpflicht!

Das eine weiß ich: ich tue es nicht!

Mit neunzehn Jahren ging Frieda Jung eine Ehe mit einem Volksschullehrer ein, die aber nur ein einziges kummervolles Jahr dauerte und dann gelöst wer­den mußte.

Ich nahm es ohne Liebe.

Gott mag's verzeih'n!

Wie soll ich glauben an Glück und Licht?

Mein Herz ist im Dunkel und kennt es nicht.

Mein Herz ist im Dunkel! Zuweilen nur
Seh' ich eines Sternleins flüchtige Spur.
Das fällt dann herab auf Nachbars Haus, —
Und ich steh' — und schau mir die Augen aus.

Zwanzigjährig wurde sie Mutter, aber auch ihr Mutterglück war erschreckend kurz, das Kindlein starb.

Mir ist ein großes Leid geschehn! —

Vater im Himmel, du darfst es nicht sehn!

O wende, wende die Augen ab,

Bis ich es da drinnen verschlossen hab'!

Und sollt’ es bis hoch in den Himmel schrei’n —

Laß Winde und Stürme noch lauter sein!

Verschließe dein Ohr mit Wolken dicht

Und hör' es nicht! Und hör’ es nicht!

Erst später, wenn alles tot und still,

Ich's weinend mit dir besprechen will, —

Doch jetzt — jetzt lege abgewandt

Mir nur leise aufs zuckende Herz die Hand!

Nun hieß es, sich selber das tägliche Brot zu verdienen. Die letzten Notgroschen wurden zusammengesucht und mit viel Mut ein neues Leben begonnen.

Frieda Jung besuchte das Kindergärtnerinnenseminar in Lyck und nahm danach zwölf Jahre lang Stellungen als Erzieherin an. All ihre unverbrauchte Mutter­liebe schenkte sie den ihr anvertrauten Kindern. Wie schwer ihr jedesmal der Abschied von diesen Kindern wurde, sagte sie mit folgenden Worten:

„Ein Kinderhändchen loszulassen, das sich einmal warm und zärtlich um meinen Hals gelegt, verursachte mir einen beinahe körperlichen Schmerz.“

Aber Nerven und Lunge versagten, und der Arzt empfahl nichts als Ruhe. Aber wo die finden? Da lernte Frieda Jung „Tante Seidel“ kennen und wurde ihre Gesellschafterin. Hier fand sie für Leib und Seele Ruhe und Frieden und viel Liebe und Güte.

Wir beiden sprachen über unser Reiseziel. „Friede“, sagte Tante Seidel, „du mußt dort immer so machen, als ob du mir vergötterst. Gleich beim Aussteigen. Erst legst mir das Reisekissen unter diesen Fuß, nachher unter diesen. Das wird einen guten Eindruck machen.“ „Aber wenn du auf dem Kissen stehst, kann ich es doch nicht vorziehen, Tantchen. Du würdest dann doch Umfallen.“ Das sah sie ein. „Ach so! Na, denn aber sonst! Wirst ja schon wissen.”

Von Cranz aus fuhren wir mit dem Dampfer, viele Stunden hindurch. Wir saßen auf dem Deck. Nicht weit von uns entfernt saßen zwei sehr vornehm aussehende Herren in lebhafter Unterhaltung. Zuweilen klang das Wort „China“ zu uns herüber. „Komm, wir setzen uns dichter ran!“ sagte Tante Seidel. „Die sind klug, da können wir uns belernen.“ Sie stand auf und nahm in unmittelbarer Nähe der beiden Platz. Es war mir über die Maßen peinlich, aber ich mußte ihr nun doch folgen. Der Herr, der gesprochen hatte, wandte sich unwillig nach uns um und machte eine Pause.

„Aber sprechen Sie doch man ruhig weiter“, ermunterte ihn Tante Seidel freund­lich, „ich her’ das gern. Wissen Sie, so was vom Ausland, das interessiert mir ungeheier.“

Der Herr machte Miene, den Platz zu verlassen, aber der andere hielt ihn zurück und sagte, nach uns gewendet abweisend: „Wir sprachen nicht zu Ihnen!“ Ich war blutrot geworden. „Tantchen, ich bitte dich“, flüsterte ich erregt.

„Du hast mir nichts zu bitten, auch nichts zu berufen! Das sag' ich dir ein für allemal“, antwortete Tante Seidel. „Wenn mir was interessiert, hast du mir bloß seinzulassen!“

Da schmolz bei den beiden Freunden das Eis. Sie lachten, daß sie sich schüttel­ten, wandten sich, ergeben in ihr Schicksal, mit ihren Feldstühlchen zu uns her­um, und der Herr, der vorher gesprochen, begann seine Reisebeschreibung noch einmal von Anfang, damit Tante Seidel den Zusammenhang hätte. Wie sie nun lauschte! Wie sie nun glücklich war! Ihr rotes freundliches Gesicht glänzte förm­lich vor Aufregung und Freude. Sie erlebte alles mit, sie verstand das meiste, und wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie mit einem so heißen Interesse, daß es dem Herren geradezu Spaß zu machen schien, seine Erklärungen ihrem Ver­ständnis anzupassen. Sobald ihr dann die Sache klar war, brach sie in ein lautes glückliches Lachen aus. „Na, wenn so — denn ja! Einer muß Ihnen nur immer auf alles bringen!“ Einmal machte sie eine treffende Bemerkung, daß der Er­zähler innehielt und seinen Begleiter ansah. „Was meinen Sie, Herr Kollege, wenn unsere Studenten so zuhörten!“

Als wir an unserem Reiseziel angekommen waren, trennten sich die Herren von uns mit freundlichem Händedruck.

„Na siehst du“, sagte Tante Seidel zu mir, „und da wollst du durchaus nicht ran. Es waren ja gewiß bloß Handlungsreisende, aber reden konnten sie wie ein Buch, und nach China mecht’ ich schrecklich gern mal zureisen!“ - -

Die ersten Wochen waren für mich aber dann doch ziemlich hart. Ich will sie übergehen. Später lernte ich mich schicken, und noch später die alte Frau lieb haben — sehr lieb.“

In dieser Zeit trat sie bescheiden und schüchtern mit ihren ersten Gedichten in die Öffentlichkeit. „Die Seele mußte diesen Ausweg schaffen“, sagte sie, als sie gefragt wurde, wie sie zum Dichten gekommen sei.

Gib mir ein Lied

Herr, laß nicht stumm mich hier am Wege stehen,

Als wäre ich ein toter, kalter Stein!

Die Quellen rauschen, und die Winde wehen,

Die Vögel singen! — Herr erhör' mein Flehen,

Gib mir mein Lied!

Ein Stammeln nur, ein schlichtes, leises Klingen,

Ein stilles Weben zwischen dir und mir!

Es braucht nicht siegend durch das Land zu dringen,

Nur Licht in meine Seele laß es singen,

Gib mir mein Lied!

Du gibst dem dürstenden Gefilde Regen,

Der matten Blume Tau und Sonnenschein,

Du läßt den Sturm die schwüle Luft bewegen,

Du gibst den Schmerz der Träne stillen Segen,

Mir gib ein Lied!

Frieda Jung konnte es nach dem Tode von Tante Seidel wagen, als freie Schrift­stellerin zu leben. Sie schaffte sich ein kleines eigenes Heim in Buddern bei Angerburg, wo ihre Schwester verheiratet war, und ihre ersten Gedichtbändchen schickte sie in die weite Welt hinaus.

Es folgt eine Auswahl ihrer Gedichte:

Mittagszauber

Tief-tiefste Waldeseinsamkeit!

Kein Lüftchen weht!

Grasmücklein ruft, ein Häher schreit.

Durch Blumen und Farne im goldnen Kleid Der Mittag geht.

Mit leisem Murmeln durchs Gesträuch

Ein Bächlein rinnt.

Waldmärchen sitzt auf moosigem Stein,

Singt müde Sinne und Seelen ein

Und nickt und spinnt.

Mein Auge blinzelt sonnenschwer

Ins Laubgezelt.

Nun senkt sich's dämmerblau herab.

Ein Fünkchen tanzt noch auf und ab.

Dann schläft die Welt!

Dat Schenste

Dat es dat Schenste enne Welt,

Dat Schenste wat es gewt:

Wenn Sinndag es, on de Sonnke schient,

On stell es Föld on Tröfft!

Denn nehm eck ut min Hochtitsload

Dem nie Omschlagdok.

Wie hucke ons ene Goarde hen,

De Peter nemmt dat Bok.

Denn red wi ditt, denn red wi dat;

Denn segg eck: „Peter, les'!“

On ons' Lewis' on Noabersch Fretz,

De speie oppe Wes’.

Dat klingt von durt so söt on hell,

Dat klingt von hier so froh!

Eck wet, dat es met Gottes Wohrt

On Kinder emmer so!

On alles grönt on alles blögt!

De lewe Sonn, de lacht! —

Denn denk eck, wi hebbe vom lewe Gott

Dat Paradies gepacht’!

Im Schnee

Das ist's, was ich am liebsten seh':

Mein Heimatdorf im tiefen Schnee!

Lichtweiße Flocken auf Baum und Strauch!

Über den Dächern bläulicher Rauch!

Und in den niedern Fensterreih'n

Der letzte rote Abendschein!

Dann wandle ich über das weiße Feld

Und glaube nicht an die Sünde der Welt.

Du und ich

In mir ist ein Ton erwacht,

Der nimmt mir die Ruh',

Der packt mich wie Sturmesmacht.

Der Ton heißt Du!

Der hebt mich mit Allgewalt

Empor über mich.

In seinem Brausen verhallt

Der Herzschlag Ich.

Unser Kind

Wir haben was Wundersüßes im Haus,

Kein Mensch ermißt's, kein Mensch denkt's aus:

Ein Kind!

Ein kleines Mädchen, rosig-rund, Perlenzähnchen im Plappermund, Lockenhaare tief im Gesicht,

In den Augen strahlendes Sonnenlicht!

Und das ist unser Kind!

Dehnt es sich früh: „Guten Morgen, Papa!“ —

Zwanzig freundliche Engel sind nah.

Faltet's die Händchen: „Ich bin klein - -!“

Huschen sie schon ins Haus herein.

Und kost' es gar: „Mutter, ich hab' Dich lieb!“

Wird auch der ehrlichste Engel zum Dieb,

Fliegt zurück in des Himmels Raum,

Schüttelt uns den süßesten Wunderbaum,

Daß wir, eh' wir's uns versehn,

In lauter Lachen und Jauchzen stehn!

O Liebling! Gottesangebind!

Unser Kind!

Oft wurde sie zu Leseabenden und Vorträgen aufgefordert: Vom Goethebund in Königsberg, dem Oberpräsidium Ostpreußens, aber auch weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus führten sie ihre Reisen. Besonders gern las sie vor Kindern in Schulen. Andächtig lauschten sie ihren Worten.

Schloap seet!

Nu es genog gesprunge, Nu es genog gelacht.

Paß op, min lewet Lenke, Paß op, nu kömmt de Nacht!

De lewe Gott em Himmel Hett sick dat utsennert

On lett op Sammetflochte Ehr falle oppe Erd.

Denn schläpt toerscht de Oma en

On denn de Äppelboom.

De Himbeerbusch, de Fohlkes, De stoahne all em Drom.

On wer liggt durt en onsem Koorn? Dat es de Oawendwind.

„God Nacht, min Lenke“, singt he noch, „Schloap seet, min seetet Kind!“

Na denn von deine Feetkes rasch, Ganz rasch de kleene Schoh!

Nu bed wi noch tom lewe Gott ...

On denn de Ogkes to!

Es blieb aber nicht so friedlich und freundlich in ihrem Leben! Wir spüren die ungeheure Spannung, die über Ostpreußen und ihrem Dorfe liegt, als in den Sommertagen 1914 der Krieg, dieser unselige Erste Weltkrieg, immer näher und näher rückte.

„Es waren lange, bange Stunden, die vor der Entscheidung. Eine Unruhe, wie sie wohl noch niemand von uns empfunden, trieb uns hin und her. Von den Extrazügen, die da drüben Tag und Nacht mit unseren Truppen der — ach, wie nahen — Grenze zuhasteten, war sie weit beängstigender, greifbarer als durch die Zeitungen zu uns ins Dorf geeilt und füllte auch mein ganzes, kleines, lie­bes Haus.

Ach — und dieses Haus war so geschmückt. Seit Tagen — seit Wochen! Wir er­warteten ja unsern geliebten Bruder aus Amerika, der nach langen Jahren des Fernseins mit Frau und Tochter bei uns eintreffen wollte. Heute — heute! Ihre Koffer standen bereits da; sie waren ihnen vorausgeeilt.

Die blaue Campanula und die roten Geranien auf dem Fensterbrett, die Rosen auf meinem Schreibtisch leuchteten in der Sonne, daß es mir weh tat. Und auch drüben im Hause meiner Schwester lag über jedem Winkelchen der Glanz seli-

ger Erwartung. Oben in unserm strahlend geschmückten Gaststübchen waren nur noch die Wasserkrüge zu füllen. Ach Gott — und nun — nun!

Da, gegen Abend, schlugen hart und drohend die Glocken an. Rasche Schläge, wie Marschtritt ins Feindesland! Krieg — Krieg!

Ein tödliches Erschrecken durchs ganze Dorf! Ein eisiges Stocken der Gedanken! Bis sie plötzlich — wie schon vielhundert Mal in diesen Tagen — die Weg­strecke durchrasen bis zur Grenze. Es kann ja auch ein Marschschritt werden aus Feindesland

hierher. Hierher — in die gesegnete Heimatflur hinein. Zu der Sorge um den Sohn, den Gatten, die unter die Fahne müssen, kommt die Angst um das spielende Kind da draußen auf der Wiese, die blühende Tochter am Nähtisch, die zittrigen Alten auf der Gartenbank, um Heim und Herd — und um das eigene Leben.

Alles stand vor der Tür, flutete durcheinander, rang die Hände. Ach, wenn es nur nicht gegen Rußland wäre!

Schweren Schrittes kam der gebeugte Gemeindevorsteher daher, die roten Zet­tel in seiner Hand! In einer halben Stunde sind sie an jedem Hause angeheftet. Landsturm!

Und nun, da man der Gefahr ins Auge sehen muß, kommt plötzlich die Ruhe über uns.

Die Offiziere, die gleich darauf in mein Haus und das meiner Schwester ein­zogen, wunderten sich, alles so empfangsbereit zu finden, so festlich. Wenige Tage später riet uns der Kommandeur, das Dorf zu verlassen. In zwei Stunden ginge der letzte Zug, der Zivilpersonen beförderte, und — — — 

Grau lag der Morgennebel über den Skalischen Wiesen, als wir von dannen zogen. Nicht umwenden — nicht umwenden!

Wir mußten zum Bahnhof einen Umweg machen. Gefällte Chausseebäume — Laufgräben — Verhaue! Der Kirchhof dort drüben, auf dem meine Mutter schläft, eine kleine Festung! Ach, und dort das trauliche Amalienhof. Sobald der Feind näher rückt, soll es herunter, um die Schußlinie frei zu machen. Wie werden wir unsere Heimat wiederfinden?

Was bebst Du so

Was bebst du so, meine heilige Heimaterde?

„Mich treten fremde Füße, mich stampfen Kosakenpferde.“

Ihr blassen Sterne, sagt an, was schaut ihr auf eurer Wacht?

„Fressende Feuer ringsum Nacht für Nacht!“

Wind, Wind, du trägst seltsamen Ton in meine Kammer.

„ Flüchtlingsjammer!“

O' Morgensonne, was zauderst du, was kommst du so spät? „Mag's schauen nicht, wenn mein treuestes Kind

Von dannen geht!“

Trost

Nömm di't nich enne Kopp, min Kind!

Nömm di't nich so to Herze!

Dat es nu enne Welt moal so:

E Wielke sen wi Mönsche froh —

Doa pust ut Truerland de Wind

On bringt geschwind

Ons hette Troane met on bött’re Schmerze.

Nömm di't nich enne Kopp, min Kind,

Loat man dat Wäder tose!

Kick, enne Welt, doa es dat so:

E Wielke geiht dat trurig to, —

Doa kömmt ut Freidland her de Wind

On bringt geschwind

Ons Lache wedder met on rode Rose.

Durch die Nacht

Es braust wie ein gehetztes Wild

Der Zug durch die stille Nacht.

Die Funken sprüh'n, die Rauchsäule schwillt,

Die Maschine ächzt und kracht.

Vorüber an Höhen und Felsgestein,

Durch des Tunnels dunkeln Spalt, Über die kahle Heide — landein, landein, Zur Seite den Föhrenwald.

Vorbei am einsamen Wärterhaus,

An verschlafenen Städten im Flug;

Die Brücke hinüber im Sturmgebraus, - - -

So rast dahin der Zug.

Zuweilen ein kurzer, gellender Pfiff.

Dann stockt die Maschine im Lauf,

Als spielte des Todes eiserner Griff

Ein pulsierendes Leben auf.

Doch wieder mit neuem schrillen Getos

Setzt keuchend der Atem ein - -

Und weiter reißt's mich — erbarmungslos

In die dunkle Fremde hinein.

Schließlich fand Frieda Jung einen warmen Platz bei einer Freundin in Osna­brück.

Während des Krieges und der Abstimmung reiste sie unermüdlich durch Deutsch­land, um in vielen Vorträgen von ihrer Heimat, ihrer Schönheit und ihrer Not zu künden, bis sich am 14. Dezember 1929 in Insterburg ihr Lebenskreis schloß.

Was ich mir heiß erstrebte, —

daß ich im Sterben säh’,

wozu ich lebte.

Und was ich bitt und flehe —

den Heiland zum Geleit, wenn ich ins Dunkle gehe!

Wenn die Schatten dunkeln

Nun bin ich fertig,

will schließen mein Haus,

lösche darin alle Lichter aus.

Durch die dunklen Räume irrt langsam mein Schritt.

Den Hausrat, den nehmen schon andere mit.

So ist mein Bündlein gar schmal und klein:

Wird ein leichtes, leichtes Wandern sein.

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